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Umgang mit den neuen Technologien

Ein Gastvortrag von Matthias Becker

Das Auto besteht seit 100 Jahren im Kern aus einer Karosserie, einem Fahrwerk und dem Antrieb. Technische Lösungen kamen und gingen und immer wurden von uns Lehrern die neuen Bauteile genauer angesehen und uns gefragt:

  • Wie ist das Teil aufgebaut? (Aufbau)
  • Wie funktioniert es? (Funktion)
  • Was bewirkt es? (Wirkungsweise)

Wer ein Lehrbuch zur Kraftfahrzeugtechnik aufschlägt, findet die Beantwortung dieser Fragen als Strukturelement wieder und so mancher Unterricht ist entsprechend aufgebaut.

Die Vielfalt der technischen Lösungen ist inzwischen explodiert und die Systeme im Auto werden mehr und mehr vernetzt. Letztendlich kann weder in der Berufsschule noch im Betrieb jede technische Innovation behandelt werden. Und das ist auch nicht nötig, denn nicht jede technologische Entwicklung findet ihren Niederschlag in einer Veränderung der Arbeitsanforderungen. Trotzdem scheint es, dass neue technologische Entwicklungen immer wieder nach dem obigen Schema zu den neu zu lernenden Inhalten erklärt werden.

Mit der Aussage eines BMW-Verantwortlichen wird dies konterkariert: „Von der 7er-Baureihe gibt es heute theoretisch 1017 Varianten.“ Müsste ein Kfz-Mechaniker sich all diesen Varianten widmen, so würde die Lehrzeit wohl die Lebensdauer eines Menschen übersteigen. Gerade im Kfz-Handwerk muss sorgfältig darauf geachtet werden, dass solch ein additives Verfahren nicht angewendet wird, werden doch Fragen der Diagnose, der Informationsbeschaffung mit den neuen Medien und der Kundenorientierung etc. immer wichtiger. 

Nun gibt es ja auch noch andere Lösungen für den Umgang mit den immer neuen Technologien im Kfz, z.B. das Systemwissen. Das Wissen um die allgemeine Funktion der Systeme soll dessen Komplexität durch Selektion reduzieren. Lehrer können sogar auf eine systemtheoretische Didaktik zurückgreifen. Gerade im Kfz-Technologieunterricht ist die Systemorientierung weit verbreitet, da diese doch eine erste Antwort auf die Informationsfülle gibt. Vielfach führt ein solches Vorgehen jedoch zu einem Unterricht, der sich in seiner Abstraktion sehr weit von den Arbeitsanforderungen entfernt. Das Resultat: Es wird gelernt, was vielleicht schlauer macht, aber nicht gebraucht wird. Ursache dafür ist, dass es während der Arbeit nie zur Anwendung gebracht werden kann. Wenn jemand die Zahnrad-, Sichel- oder Flügelzellenpumpe den Verdrängerpumpen und die Kreiselpumpe den Strömungspumpen zuordnen kann (ein typisches Beispiel für den Strukturen schaffenden systemtheoretischen Unterricht), führt dies noch lange nicht zu einer Steigerung seiner Handlungskompetenz. Es fehlt der klare Bezug zur Arbeit. Ein zu niedriger Öldruck oder ein aussetzender Motor aufgrund eines Defektes an der Kraftstoffpumpe kann mit dem abstrakten Systemwissen nicht diagnostiziert, ja nicht einmal reflektiert werden.  

Neben der Zunahme an Varianten plagt uns die Elektronik im Automobil. Fast keine Funktion ist mehr zu finden, die nicht von der Elektronik beherrscht ist. Die Elektronifizierung der Autos führt zu einschneidenden Veränderungen der Technik. Ein Trugschluss ist aber, darauf hin die Elektronik zum Lehrfach zu erklären. Die Elektronik selbst ist nicht Gegenstand der Facharbeit. Weder das innere Funktionieren eines Mikrocomputers noch die Struktureigenschaften der Halbleiter muss man kennen, um ein Auto reparieren zu können. Das spiegelt sich letztendlich auch in der Kfz-Branche wieder. Weder die Zahl der Auszubildenden zum Kfz-Elektriker noch die Zahl der Elektrik-Betriebe sind durch den gewachsenen Elektronikanteil im Automobil angestiegen (siehe Diagramm). Im Gegenteil: Die Zahl der Auszubildenden bleibt relativ konstant und die Zahl der Elektrikbetriebe sinkt seit 10 Jahren kontinuierlich.

 

Die Zahl der Kfz-Elektriker ist trotz der gestiegenen "Elektronifizierung"  nicht angestiegen.

Dies ist auch ein Ausdruck der zusammengewachsenen Kfz-Systemtechnik, in der die Elektronik nur noch Hilfsmittel zur Erfüllung der Systemfunktionen ist. Die Fahrzeugelektronik wird inzwischen selbst von Fahrzeugingenieuren mit Hilfe von Black-Box-Modellen betrachtet. Während allerdings der Ingenieur der Blackbox Eigenschaften verleiht, ist es Aufgabe des Mechanikers, die (Fehl-)Wirkungen im System und deren Ursachen zu verstehen.

Damit wären wir bei der Frage angekommen, welche Rolle die Elektrotechnik bei der Ausbildung zum Kfz-Mechaniker spielt. Die Fachsystematik der Elektrotechnik leitet z.B. aus den Gesetzmäßigkeiten der Induktion die Funktion von Sensoren ab, die auf diesem Prinzip basieren. Das ist aber nicht das Wissen, das der Mechaniker für die Arbeit am Fahrzeug braucht. Er wendet nicht das Induktionsgesetz auf das Bauteil Drehzahlsensor an, sondern misst den Signalverlauf eines solchen Sensors am Fahrzeug und versucht, ihm seinen „Sinn“ zu entlocken. Die physikalische Ursache für die verschiedenen Signalverläufe lassen sich mit Hilfe des Induktionsgesetzes erklären und jeder Physiker und jeder Ingenieur könnte dies tun. Das Wissen des Facharbeiters macht aber demgegenüber aus, die richtigen Messwerkzeuge auswählen zu können, die Messung am Fahrzeug zu planen und durchzuführen und die von der Sollkurve (die alles andere als einheitlich ist) abweichenden Werte zu bemerken. Bei einem Abweichen der Signalverläufe muss er darüber hinaus in der Lage sein, die dafür verantwortliche Ursache zu finden. Schließlich ist es seine Aufgabe, den verursachenden Defekt abzustellen, sei es durch den Tausch bspw. des Drehzahlsensors oder durch die Reparatur eines Masseschluss verursachenden Kabels. Diese Könnerschaft ist doch letztlich das Herausragende an einem guten Mechaniker, oder lassen sie ihren Physiklehrer ihr Auto reparieren?

Typische Signalbilder des Oszilloskops von Drehzahlsensoren und Induktivgebern, die heute ausgewertet werden müssen
Wo liegt der richtige Kompromiss zwischen Theorie und Praxis?

Wo liegt also der Weg des gesunden Mittelmaßes zwischen Theorie und Praxis, den Olaf Fehrentz in der Ausgabe 5/2001 des mot Profi einfordert?

An der Universität Flensburg versuchen wir im Studium zum Berufsschullehrer das Arbeitsprozesswissen zum Strukturelement zu machen. Die Lehrer sollen dadurch in die Lage versetzt werden, im Unterricht ausgehend von betrieblichen Problemstellungen z.B. das Erfahren der Ursachen für Abweichungen von den Sollkurven zu thematisieren. Dazu müssen die realen Gegenstände (das Auto, das Messgerät, die Kundenbeanstandung, die Symptome), die realen Bedingungen (der erschwerte Zugang bei der Messung, die unvollständige Information) und die Organisation der Arbeit in den Mittelpunkt der Ausbildung rücken. Letzteres vor allem, um den Bildungsaspekt gebührend zu berücksichtigen, in dem die Lösung von Problemen und die Arbeitsaufgaben reflektiert werden können.  

Bevor die Technikdetails vermittelt werden, sollten die Arbeitsprozesse daher die wichtigste Rolle spielen. Wir sprechen daher vom arbeitsprozessorientierten Lernen. Die folgenden Bedingungen sollten auf jeden Fall beachtet werden, wenn ein arbeitsprozessorientiertes Lernen befördert werden soll:

  • Lernort: Arbeitsplatz oder integrierter Fachraum. Die räumliche Trennung zwischen Theorie und Praxis ist für ein arbeitsprozessorientiertes Lernen hinderlich.
  • Projektorientiertes Lernen: Thematisch aufgebaute Lerninhalte führen zu einem strukturierten Wissen, dessen Anwendungs- und Transferfähigkeit stark in Frage gestellt werden muss. Demgegenüber steigert die Orientierung an betrieblichen Problemstellungen nicht nur die Motivation der Lernenden, sondern sorgt auch für ein „Erfahrung machen“, welches zu einer Kompetenzentwicklung und nicht nur zu einem Wissenszuwachs bei den Lernenden führt.
  • Lernorganisation: Eigenverantwortliches Lernen muss stark gefordert und gefördert werden, damit nicht nur die Probleme gelöst werden, sondern der Lerner die Probleme löst (ein gewaltiger Unterschied). Während der Lösung von Problemen soll gelernt werden können.
  • Situationsadäquates Lernen: Unterstützung für ein arbeitsprozessorientiertes Lernen sollte so angelegt sein, dass die Lernsituationen möglichst nicht künstlicher Natur sind, sondern Situationen aus dem Arbeitsprozess widerspiegeln. Für das Lernen im Betrieb sollten die Situationen immer Realsituationen sein.
  • Die Lernmotivation entsteht beim arbeitsprozessorientierten Lernen aus dem Arbeitsprozess heraus.
  • Lerninhalte: Arbeitsprozesswissen. Um ein arbeitsprozessorientiertes Lernen zu fördern ist es unabdingbar, zu wissen, welches Wissen wie während der Arbeit verwendet wird, um die Arbeitsaufgaben zu bewältigen. Es ist sonst nicht möglich, Informationen in einer arbeitsprozessgerechten Struktur bereitzustellen.
  • Lernen und Arbeiten werden gemeinsam unterstützt. Vor allem für das betriebliche Lernen dürfen Lernen und Arbeiten nicht als Gegensatz aufgefasst werden. Lernförderliche Strukturen können nur geschaffen werden, wenn vermieden wird, dass Maßnahmen oder die Bereitstellung von Unterstützung das Lernen oder das Arbeiten isoliert.
  • Multimediale Unterstützung: Informations- und Kommunikationstechnologien wie das Internet sollten stets als Plattform verstanden sein und nicht selbst zum Lernobjekt werden.

Matthias Becker

Anmerkung: Den Beruf des Kfz-Elektrikers gibt es seit 1939 (parallel hierzu gab es in den Jahren von 1938 bis 1953 auch den Beruf des Autoelektrikers). Seit 1998 sind die beiden Gewerbe Kraftfahrzeugmechaniker und Kraftfahrzeugelektriker zum Gewerbe der Kraftfahrzeugtechniker zusammengelegt worden. Daher heißt der entsprechende Meistertitel nun Kfz-Technikermeister.

Ich bedanke mich an dieser Stelle recht herzlich bei dem Autor diese Beitrags Matthias Becker, der diesen bereits in der mot veröffentlicht hatte. Persönliche Infos über Herrn Becker können sie auf seiner Homepage bekommen:

E-Mail: becker@biat.uni-flensburg.de

Web: http://www.biat.uni-flensburg.de

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Wiesinger