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Jeder Fall hat seine Tücken

... an einem Beispiel des Sozialkundeunterrichts.

Ein weiterer Gastbeitrag von Hans-Dietrich Zeuschner. Angesprochen sind vor allem die Sozialkundelehrer der Berufsschule.

Einführung:

„Zu dem kasuistischen (oder Fall-) Prinzip gibt es keine grundsätzliche Alternative – weder z.B. eine fachsystematische Sequenz noch das Prinzip der konzentrischen Kreise noch auch das Prinzip, den „Fall“ nur als Einstieg zu benutzen“ (Hilligen, 1971)

Dies gilt auch noch heute, dreißig Jahre später.  Sowohl im Alltagsunterricht als auch bei Lehrproben spielen Fälle  eine bedeutsame  Rolle bzw. kommt es bei der Anwendung des Fallprinzips nach wie vor zu  Irritationen (siehe Überschrift). Hiervon soll in diesem Beitrag die Rede sein. 

Im Deutschunterricht haben die Schüler gelernt, dass eine Nachricht in der Zeitung dann vollständig ist, wenn sie Antworten auf  die bekannten sechs W-Fragen enthält. Zur Bearbeitung  eines Falles im Sozialkundeunterricht  reichen diese Information nicht aus, sie haben hier lediglich die Qualität von Basisinformationen. Die Hintergründe eines Falles  werden erst dann deutlich, wenn man weiter fragt,  z.B. so wie in der Sesamstraße: „WIESO, WESHALB, WARUM?“  

Diesen Sachverhalt  hätte ich bedenken müssen, als ich  Bernd Janssens Konzept  Methodenorientierter Politikunterricht,  Düsseldorf, 1992 erprobte.

Hier der Fall (Stern, Nr.9/1990,  S.24):

„Der Fall Koch"

In der Alexanderstraße 8b, einer gutbürgerlichen Wohnlage der Stuttgarter Innenstadt, war Otto Koch fast 40 Jahre lang zu Hause, dort fühlte er ich wohl. Der Mietpreis war moderat: 302 Mark für 60 Quadratmeter. Und der Hauswirt hatte ihm ein Wohnrecht auf Lebenszeit zugesichert.

Doch im Herbst vergangenen Jahres wurde der Wohnblock verkauft; den neuen Eigentümer scherte der alte Mietvertrag nicht. Lapidar teilte er dem 69jährigen Rentner mit, nach umfangreichen Sanierungsarbeiten müsse er leider die Miete erhöhen – auf 800 Mark. „Das kann ich nicht bezahlen“ klagte Koch einem Nachbarn, „aber wenn ich hier raus muss, finde ich ja nichts anderes“.  In seiner Verzweiflung versuchte er, mit dem neuen Hauswirt über eine Mietreduzierung zu sprechen – ohne Erfolg. Da schrieb der Mann ihm einen Abschiedsbrief: „Sie haben gewonnen. Ich weiche. Ich habe im Kühlschrank eine Flasche kalt gestellt, damit Sie auf Ihren Erfolg anstoßen können.“ Dann erhängte er sich.

Dass die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren gegen den Hauseigentümer wegen des Verdachts des Mietwuchers einleitete, ist für Rolf Gassmann vom Mietverein Stuttgart nur ein schwacher Trost:

„Der Fall Koch zeigt in erschreckender Weise, wie weit es auf dem Wohnungsmarkt schon gekommen ist.“ Laut Gassmann ist in der Schwabenmetropole die „Spekulation bereits gravierend“, sind die Kündigungen langjähriger Mieter in den letzten Jahren um 50 Prozent gestiegen“, werden „immer mehr sozial Schwache aus ihrer alten Bleibe verdrängt“.

 

Wie gesagt, ich wollte das Konzept von Bernd Janssen erproben und hielt mich an die von ihm  vorgegebene Struktur :

1.Schritt: Das Ereignis nachempfinden und bewerten

Schlüsselfrage: Was ist geschehen, wie reagiere ich gefühlsmäßig und rational auf dieses Ereignis und seine negativen Auswirkungen?[1]

Der Fall hatte meine Schüler (Sek.II / BS, FR Landmaschinenmechaniker) sehr betroffen gemacht. Die spontanen – von Mitleid geprägten - Reaktionen bestanden im Wesentlichen aus  Fragen, die sich auf die Hintergründe bezogen [2] , z.B.

  • „Weshalb ist der Mann nach 40 Jahren nicht unkündbar?“

  • „Warum haben sich die Nachbarn nicht zusammen getan?“

  • „Warum hat sich seine Familie sich nicht um ihn gekümmert? 

  • „Wieso hat ihm der Mietverein Stuttgart nicht geholfen?“

  • „Warum gibt es  nicht ein Mietrecht, dass so was verhindert?“

  •  „Weshalb hatte er keinen Rechtsschutz?“

  • „Wieso bringt der sich um, nur weil er die Wohnung verliert?“   

Das Dilemma: Der Sternartikel enthielt nicht eine Antwort auf die Nachfragen der Schüler. Ich musste immer wieder mit den Schultern zucken bzw. blieb zufriedenstellende d.h. stichhaltige  Antworten schuldig, auf Spekulationen wollte ich mich nicht einlassen.

Der Erfolg: Der zunächst von den Schülern mit sehr viel Mitgefühl wahrgenommene Otto Koch entwickelte sich mit jeder weiteren unbeantworteten „Sesamstraßenfrage“  zu einer abstrakten Person. 

Die Konsequenz: die Motivation, sich mit dem Opfer  bzw. mit diesem Fall zu beschäftigen, sank. 

Die Lehre: „Das verwendete Fallmaterial sollte den Tatbestand möglichst genau und überschaubar dokumentieren“[3], dass heißt,  über die konkrete Beantwortung der so genannten  W-Fragen weit hinaus gehen. 

Nach diesem  Erfahrungsbericht  zu  dem in  POLIS 1/2001 unter der Überschrift  Globales Lernen im Politikunterricht  erschienenen Beitrag von Gotthard Breit,  genauer gesagt, zu dem dort  zitierten Fall[4], vom Autor als Sozialreportage ausgewiesen, betitelt: Verelendete Jugendliche aus den neuen Bundesländern machen Helfern Sorgen  „Die wollen uns bloß umkrempeln“. 

Dieser Beitrag handelt von den vergeblichen Bemühungen verschiedener Institutionen, junge Leute zu reintegrieren. Von der Vergangenheit der  Heranwachsenden bzw. von den Hintergründen des Falls  ist lediglich bekannt, dass sie zu den letzten Punks von Weimar gehörten, von „Faschos“ drangsaliert, und  dort durch den Abriss eines Hauses obdachlos geworden sind, sowie dass sie „ihre Klamotten“  verloren haben und schließlich in Braunschweig gelandet sind.

Nach meiner Einschätzung handelt es sich  hier ebenfalls um einen Fall  mit Tücken, in dem eingangs beschriebenen Sinn.

Sek. II-Schüler werden, wenn man sie mit ihm konfrontiert, mit Sicherheit die o.a. Sesamstraßenfragen  stellen, z.B. nach der familiären und schulischen Sozialisation der Punks; nach den Gründen für ihr Abrutschen; nach ihrem Alter – bei Jugendlichen[5] ist das Jugendamt zuständig; nach den erwähnten Methoden der Faschos in Weimar ; nach den Motiven für ihr familiäres Zusammenleben mit Tieren. Die Frage: „Wieso lässt man die jungen Leute nicht  einfach so leben, wie sie leben wollen?“ wird garantiert nicht fehlen.

Diese Nachfragen haben ihren Grund: Um nicht das gleiche Dilemma wie im Fall Koch  zu erleben, d.h. um befriedigende Antworten auf ggf. auftretende Sesamstraßenfragen parat zu haben, erscheint es dringend angeraten, Hintergrundinformationen  in die Vorbereitung der Stunde einzubeziehen, z.B. durch ein persönliches Gespräch mit der Gruppe.

Im Kern, dokumentiert  die Redakteurin  Karla Götz in ihrer Reportage das bisher fehlgeschlagene Bemühen von  Behörden bzw. deren Vertreter, Heranwachsende mit einer von der Gesellschaft nicht akzeptierten Lebensphilosophie  und ausgeübten Lebensart,  zu reintegrieren.  Gotthard Breit erkennt in dem Fall vier didaktische Perspektiven und fügt eine fünfte an:

  • Das Obdachlosenproblem          

  • Die Aufgaben der Familie                       

  • Die Grundwerte unserer Gesellschaft  

  • Systemvergleich BRD / DDR              

  • Armut, ein globales Problem                   

Ansatzpunkte für die  Ableitung der  didaktischen  Perspektiven Systemvergleich BRD/DDR sowie Armut, ein globales Problem  sind direkt nicht zu erkennen. Die Punks stammen zwar aus der ehemaligen DDR , sie können jedoch auf Grund ihres Alters (18 + max.3 Jahre) keine entsprechenden  Erfahrungen  mit dem DDR-Regime gemacht haben  bzw. wird  in dem Beitrag nicht eine  der  typischen Kategorien  der Armut, wie  Absolute Armut, Relative Armut, Ungleichheit, Ungerechtigkeit [6]  konkret angesprochen und ist  der Handlungsrahmen lediglich auf zwei deutsche Städte: Weimar und Braunschweig beschränkt.

Anders verhält es sich dagegen mit den drei übrigen Perspektiven.

Der von Gotthard Breit zitierte Fall wäre m. E. als echter Einstieg nach H.Giesecke[7]  für eine Lektion mit dem Thema „Die Grundwerte unserer Gesellschaft“,  in der u.a. die Aspekte Obdachlosigkeit und Familie Berücksichtigung finden könnten, sehr gut geeignet. 

 

Anmerkungen und Quellenangaben des Autors

[1] Weitere Schritte: 2. Hintergründe aufarbeiten  3.Politische Antworten diskutieren  4.Politische Zukunft einschätzen  5. Nach praktischen Folgen fragen (zurück)

[2] soweit ich mich erinnere  (zurück)

[3] http://www.wiso.gwdg.de       (Robert Löffelholz u.a.: Flechsigs Göttinger Katalog Didaktischer Modelle Unterrichtsmethode 4: Fallmethode  (zurück)
[4] von Karla Götz, Braunschweiger Zeitung, 2.11.2000,o. S.  (zurück)
[5] der Begriff wird eben da verwendet  (zurück)
[6] http://www.welthaus.de/globarm.html  (Hrg. Welthaus Bielefeld: Unterrichtseinheit Armut und Globalisierung, Bonn 1999)      (zurück)
[7] Giesecke, H.: Methodik des politischen Unterrichts, München 1978, S.114 ff  (zurück)

Autor: Dipl.-Ing. Hans-Dietrich Zeuschner VDI, Studiendirektor a.D.

 17.Mai 2001


Vielen Dank Herr Zeuschner. Weitere Seiten von Herrn Zeuschner finden sie hier.

Wiesinger überarbeitet: